Mussten Sie sich schon mal trennen? So richtig schmerzvoll trennen? Und ich meine damit nicht etwa von einem Partner oder einer Partnerin. Darüber kommt man ja irgendwann hinweg. Nein, ich spreche von der Fassungslosigkeit und dem Schmerz, die uns überkommen, wenn wir uns von Teilen eines selbst geschriebenen Textes trennen sollen.
Da haben Sie in Ihrem beruflichen Leben eines der vermutlich größten literarischen Werke der Gegenwartsliteratur verfasst und bevor Sie dafür wenigstens posthum den Kritikerpreis des Sachbuchhandels verliehen bekommen, ja noch bevor es sogar veröffentlicht wird, sollen Sie Sätze, einzelne Passagen oder sogar ganze Seiten daraus wieder streichen. Einfach weil ein Redakteur (oder Lektor) es so will.
Wir sprechen von Textkritik und Textüberarbeitung. Und wir werden darüber sprechen (müssen), wie Sie am besten damit umgehen. Denn eine solch ehrabschneidende Handlung führt nicht selten zu gravierenden psychosozialen Belastungsstörungen.
Die eigene Schöpfungsgeschichte
Ich wette, Sie haben diese Beklemmung beim Lesen des ersten Absatzes fast körperlich gespürt. Allein die Vorstellung, dass jemand eine von Ihnen erbrachte Leistung schmälert, reduziert oder zurechtstutzt, raubt einem den Atem. Es ist, als ob Ihnen eine dunkle Macht den Brustkorb zusammenschnürt. Dabei hatte doch alles so harmlos angefangen. Sie sollten doch nur einen Beitrag für die neue Projektbroschüre schreiben.
Gut, Schreiben ist jetzt nicht so Ihr Ding. Aber um so höher ist es doch wohl zu bewerten, wenn Sie es denn tun! Wie viele verzweifelte Stunden im Büro haben Sie da gesessen und geschwitzt, während Kollege Manfred Meissner bei Angry Birds punktemäßig an Ihnen vorbeizog und auch noch früher Feierabend machte. Sogar zu Hause haben Sie formuliert, an einzelnen Sätzen gefeilt, den Kindern nur einen flüchtigen Gutenachtkuss gegeben und wieder bis spät in die Nacht die Worte durch die Gegend geschoben.
Bis es irgendwann Sinn machte. Bis Sie merkten, dass aus diesem langwierigen und schmerzvollen Kreationsprozess doch so etwas entstanden sein könnte wie ein Text. Der Weg zum 10:00-Uhr-Meeting am nächsten Morgen glich da fast einer Prozession. Ach, was sage ich? Einem Triumphmarsch! Niemand konnte ahnen, welchen unglaublichen Schatz der USB-Stick in Ihrer Hosentasche barg. Es war der Heilige Gral, den Sie in wenigen Minuten triumphierend in die Mitte der Tafelrunde werfen würden, sobald König Artus, äh, ich meine natürlich Ihr Chef, Sie fragen würde: „Meier, wann ist denn Ihr Text endlich fertig?“.
Das Innere Kind
So weit, so gut. Das eigentliche Drama geschieht Tage später. Mittlerweile wurde der Text an einen externen Redakteur weitergeleitet – einen Menschen, der dafür sorgen soll, dass aus den gesammelten Einzelwerken ein einzelnes Gesamtwerk entsteht. Und dieser Mensch hatte sich tatsächlich auch Ihren Beitrag vorgenommen. Schon der erste Blick auf das – sich jetzt im Überarbeitungsmodus befindende – Word-Dokument zielt direkt und brutalst möglich auf Ihr Inneres Kind. Kennen Sie, nicht wahr? Das ist das, was uns so verletztlich macht. Waren Sie mit Ihrem Inneren Kind soeben noch im Einklang, driftet dieses nun mit Lichtgeschwindigkeit von Ihrem Erwachsenen-Ich hinweg. In nur Bruchteilen einer Sekunde sitzen Sie wieder im Deutschunterricht, 7. Klasse, bei Frau Jenisch. Rückgabe der Deutscharbeit.
Alles ist rot. Zumindest gefühlt. Vor Ihren Augen verschwimmen Anmerkungen wie „redundante Aussage„, „ausgeprägter Nominalstil„, „zu viele Anglizismen“ oder „Diese Passage ist eine Eins-zu-eins-Kopie aus dem Projektantrag„. Den inflationären Gebrauch von Satzzeichen in der deutschen Sprache haben Sie schon damals reklamiert und natürlich waren Sie überzeugt, dass man Rückgrat Rückrat schreibt oder E-Mail-Adresse eben Emailadresse. Um es auf den Punkt zu bringen: Sie fühlen sich ertappt – und damit wieder wie ein Schüler. Sie sehen sich und Ihre Arbeit nicht wertgeschätzt. Im Gegenteil: Sie fühlen sich ausschließlich kritisiert und gemaßregelt. Da steigt es heiß in einem auf, da entsteht Frust. Verständlich.
Mit Textkritik umgehen
Die Frage lautet also: Wie gehen Sie mit Textkritik um? Die Antwort darauf ist ebenso kurz wie simpel: Möglichst professionell! Lassen Sie Ihr Inneres Kind gar nicht erst zu Wort kommen. Sie sind ein erwachsener Mensch und sollten sich folgende Punkte vor Augen führen:
1. Ihr Beitrag für eine Publikation ist Ihr Fachwissen. Niemand erwartet von Ihnen eine (pulitzer)preisreife Autorenleistung.
2. Der externe Redakteur/Lektor wurde extra engagiert, damit es eine gute Autorenleistung wird. Schließlich sollen die Inhalte verständlich und gut zu lesen sein.
3. Ja, ein externer Redakteur/Lektor kann in der Regel besser mit Sprache umgehen, schließlich ist genau das sein Job.
4. Durch den Blick „von außen“ lassen sich Fehler oder inhaltliche Brüche besser erkennen.
5. Textkritik ist niemals persönliche Kritik. Sehen Sie sie sachlich und verbessern Sie damit ihren eigenen Schreibstil.
6. Auch die Texte von Journalisten, Redakteuren oder Autoren werden gegengelesen und kritisiert. Hier werden sogar härtere Maßstäbe angesetzt. Kritik ist Berufsalltag.
7. Wurde umformuliert, dann betrachten Sie den neuen Satz oder neuen Absatz als Änderungsvorschlag. Welche Änderungen Sie letztlich annehmen, bleibt Ihnen überlassen.
8. Ein Text im Word-Überarbeitungsmodus sieht einfach schrecklich aus. Lassen Sie sich davon nicht beeindrucken oder überrollen.
9. Lesen Sie den überarbeiteten Text in einer Version, die frei ist von Anmerkungen und Korrekturen. Das hat eine ganz andere (positive) Textwirkung und ist viel weniger frustrierend.
10. Seien Sie offen für Kritik & Verbesserungen. Letztlich steht Ihr Name unter dem fertigen Text und brillieren Sie mit einem guten Beitrag.