Auf Twitter, Facebook & Co. gibt es Nachrichten, die sich enorm schnell verbreiten. Innerhalb kürzester Zeit werden sie tausendfach geliked, gefavt und retweetet. Besonders wirksam ist die Kombination aus einem Bild und einer – vermeintlich – dazugehörigen Geschichte. So wie dieses Ensemble vom Twitter-Account @realtouchingpics.
Rührt uns das Bild allein schon an, erhält es durch die kleine Geschichte am Rande erst seine richtige emotionale Tiefe. Allerdings mit dem Schönheitsfehler, dass die Geschichte frei erfunden ist. Weder wurde das Foto von einer irakischen Künstlerin bzw. einem irakischen Künstler gemacht, noch musste das abgebildete Mädchen in einem Waisenhaus aufwachsen. Hinter dem Bild steckt die iranische (!) Fotografin Bahareh Bisheh*. Das Foto ist Teil einer künstlerischen Serie und entstammt nicht etwa einer Reportage oder Fotodokumentation (folgende Bilder copyright by Bahareh Bisheh*):
Unabhängig davon, dass es sich bei diesem Tweet also um eine frei erfundene Geschichte handelt, ist interessant, wie eine solch herzergreifende Geschichte wirkt. Das Beispiel von dem kleinen Waisenmädchen, das sich seine Mutter auf den nackten Beton malt, bedient unser Bedürfnis nach Emotionen. Oder besser: unser Bedürfnis danach, eigene Emotionen ausleben zu können. Wer könnte sich dieser Geschichte entziehen? Wer wäre nicht angerührt? Hier darf einem also sichtbar das Herz schwer werden.
Die Macht der Geschichte
Die Botschaft zum Bild und zu dessen vermeintlichem Hintergrund liefert die Nachricht auf Twitter gleich mit: „Sei dankbar für das, was du hast. Die meisten wissen erst, was sie besaßen, wenn sie es nicht mehr haben. Doch dann ist es zu spät„. Solche Bild-Story-Kombinationen gibt es in den sozialen Medien viele. Nicht umsonst trägt der Twitter-Account @realtouchingpics die Unterzeile „Pics with a story„. Hier wird der Effekt von Storytelling auf seinen wohl kleinsten Nenner gebracht. Die Geschichten sind nur wenige Sätze lang, aber sie tun das, was Storytelling im Kern ausmacht: Sie berühren die Menschen. Sie erzeugen Bilder und sorgen für Emotionen. Sie verankern in unseren Köpfen nur wenige Zeilen und Bilder, dort aber startet dann ein ganzes Kopfkino. Jeder von uns kann diese Geschichten weiter entwickeln. Er darf sich in epischer Breite ausmalen, wie schwer das Schicksal dem armen Waisenmädchen wohl zusätzlich noch mitgespielt hat. – Welch ein unglaublicher Effekt durch den Einsatz eines so einfachen rethorischen Stilmittels.
Halten wir fest: Storytelling wirkt! Vergessen Sie Zahlen, Daten und Fakten. Damit beeindrucken Sie niemanden und damit erzielen Sie auch keine nachhaltige Wirkung. Was Sie als Experte in ihrem Fachgebiet vielleicht für interessant und spannend halten, langweilt die anderen. Bemühen Sie sich nicht, möglichst umfassend zu informieren. Erzählen Sie lieber von dem, was Ihr Projekt oder Ihre Organisation mit den Menschen und dem Leben verbindet. Bereits mit einem Bild und wenigen Sätzen können Sie viel erreichen.
Suchen Sie also nach den Geschichten in Ihrem Umfeld bzw. in ihren Projekten. Suchen Sie jedoch nach Geschichten, die die Menschen auch emotional berühren. Mit reinen Sachinformationen landen Sie beim Leser höchstens im Frontallappen seiner Großhirnrinde – dem flüchtigen Kurzzeitgedächtnis. Erst wenn Sie auch seine Emotionen ansprechen, verknüpft sich Ihre Botschaft mit dem limbischen System, dem Sitz der Gefühle.
So genau will es gar keiner wissen …
Aus der Waisenkind-Geschichte können wir noch eine weitere – sehr erstaunliche – Botschaft lernen: Der Wahrheitsgehalt einer solchen Geschichte ist den meisten Menschen gar nicht so wichtig. Die Geschichte hat bei ihnen teils tiefgehende Gefühle ausgelöst und da ist es geradezu störend, wenn jemand einer so anrührenden Lügengeschichte die Maske runterreißt. Ein entsprechender Tweet meinerseits sorgte dann auch für teils heftige Kritik und böse Beschimpfungen.
Ein erster Grund dafür mag sein, dass ich hier der Wahrheit auf leicht ironische Weise die Hosen runtergezogen habe. In Anlehnung an die Originalgeschichte hat sich das kleine Waisenkind also nun einen Elefanten gemalt, weil es nie einen besessen hat. „Es musste völlig einsam im Zoo aufwachsen. Ohne Mama-Elefant.“ Nicht ganz nett, aber manchmal ist es hilfreich, einen Spiegel hochzuhalten. Schließlich fühlt sich so mancher „Retweeter & Faver“ aber auch deshalb angefasst, weil er auf eine Lügengeschichte hereingefallen ist. Er ist einem Märchenerzähler auf den Leim gegangen. Und auch das sorgt für Groll.
Was lernen wir daraus? In der Kommunikation kommt es darauf an, Inhalte in der richtigen Form zu vermitteln: in diesem Fall eben durch Storytelling. Der Leser will nicht mit unnötigen Hintergrundinformationen oder überflüssigen Fakten belastet bzw. gestört werden. Sie entzaubern seine Geschichte. Mit Fakten startet kein Kopfkino und bleibt vom Lesestoff auch nicht wirklich viel hängen.
Das Waisenkind-Beispiel sollte nun aber nicht dazu anregen, Geschichten einfach zu erfinden. Wie schon gesagt: Leser (und auch Konsumenten) reagieren durchaus ungehalten, wenn sie erkennen, dass sie an der Nase herumgeführt wurden. So was macht man als Geschichtenerzähler genau einmal und dann steigt man in die Liga der Märchenerzähler ab. Das verlorene Vertrauen wieder zurück zu gewinnen ist schwer. Also, seien Sie kein Lügenbaron, sondern erzählen Sie Ihre wahre Geschichte. Starten Sie das Kino in den Köpfen der Menschen.
*Bahareh Bisheh ist eine iranische Fotografin mit dem Schwerpunkt People-Fotografie und Stillleben. Mehr von ihren Bildern gibt es auf ihrem Flickr-Account zu sehen.