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Was uns die Natur (nicht) lehrt

Fast hätte ich ihn verschüttet, meinen ersten Kaffee heute Morgen. Mit dem nämlich saß ich am Schreibtisch, las Nachrichten und scrollte durch Twitter. Dabei stieß ich auf folgenden Tweet:

 

Ich bin Naturwissenschaftler, Biologe, um es genau zu sagen. Und wenn ich mal wieder lese, wie Tiere, Pflanzen (oder eben Bakterien) als vermeintliche Vorbilder für Führungskräfte, Wirtschaftsstrategen oder Selbstoptimierer herangezogen werden, dann weiß ich: Hier ist grundlegendes Schulwissen irgendwann verloren gegangen. Dabei wirkt es eigentlich sehr überzeugend, wenn man wissenschaftliche Analogien anführt und dabei auf seriöse Studien und Medien verlinkt. Was also stimmt mit diesem Tweet nicht?

Ganz einfach: Er ist grundlegend falsch. Er vergleicht Äpfel mit Birnen, Vögel mit Fischen, Einzeller mit Menschen. Auf der einen Seite stehen Bakterien, jedes einzelne nicht mehr als ein bisschen Glibber, zusammengehalten von einer Doppelmembran. In Gemeinschaft – also als Kolonie – sind Bakterien in der Lage, miteinander zu „kommunizieren“. Sie tun das auf bio- bzw. elektrochemischen Wege (mit Hilfe kleiner geladener Teilchen und größerer Signalmoleküle). Das entspricht in etwa der Reizweiterleitung in unserem Nervensystem.

Auf der anderen Seite dieses Vergleichs stehen wir Menschen, soziale Wesen mit einem hoch entwickelten Bewusstsein und Intellekt, der in unterschiedlichsten systemischen Kontexten situationsgerecht funktionieren soll – wie zum Beispiel in Wirtschaft und Beruf. Entscheidungen, die wir hier treffen, werden durch weitaus mehr bestimmt als durch unwillkürlich weitergeleitete Ionen oder Moleküle. Wer also in einem Unternehmen nach Ursachen und Maximen des menschlichen Handelns sucht, der mag in den Sozial- oder Wirtschaftswissenschaften fündig werden, nicht aber in der Mikrobiologie.

Menschen sind keine Bakterien
Um es auf den Punkt zu bringen: Der Mensch-Einzeller-Vergleich hinkt nicht nur, er basiert auf falschen Zusammenhängen und funktioniert auf keiner Ebene. Was der Tweet-Autor ausdrücken wollte, ist natürlich klar: „Bakterien können gut miteinander kommunizieren. Sie brauchen keinen Leader, um in der Gruppe erfolgreich zu sein. Warum also können wir das nicht?“. Antwort: Weil wir keine Bakterien sind und Bakterien keine Menschen. „Das muss man doch nicht so eng sehen“, wird vielleicht jetzt mancher sagen. „Das Beispiel dient doch nur der Illustrierung.“

Gut, dann stellen wir uns mal vor, wir sitzen in einem Führungskräfte-Seminar und der Business-Coach konfrontiert uns mit folgender Aussage: „Was wir von der Natur lernen können: Wenn Vögel nur schnell genug mit ihren vorderen Extremitäten schlagen, fliegen sie. Ganz ohne technische Hilfe!“ Nachdem alle eine Weile darüber nachgedacht haben, bittet uns der Coach hinauf aufs Dach. Ich wage jetzt mal die steile Prognose, dass – nach entsprechender Aufforderung – niemand einen Schritt über die Dachkante hinaus wagen wird. Warum nicht? Weil jeder von uns so viel Basiswissen Biologie und glücklicherweise auch so viel Verstand hat, dass er genau weiß, wie dieses Experiment endet.

Business Bullshit
Die Sache mit dem Basiswissen Biologie und dem gesunden Menschenverstand funktioniert aber leider nur bei derart offensichtlichen Zusammenhängen. Häufig werden uns Märchen erzählt und Bären aufgebunden, die wir ebenso leichtgläubig wie leichtfüßig weitertragen. Da werden wissenschaftliche Zusammenhänge hergestellt oder zitiert, die es überhaupt nicht gibt. In der Regel sind schon die einfachsten Grundlagen solcher Geschichten falsch.

Wie zum Beispiel in einem Management-Handbuch zum Thema „Was Manager von der Natur lernen können“. Darin findet sich u. a. folgende Erzählung aus der Welt der tierischen Räuber: „Wenn Piranhas auf eine so große Menge an Beutefischen treffen, dass sie nicht alle sofort fressen können, dann beißen sie ihnen die Flossen ab und verspeisen sie später“. Oh Gott, die Natur ist grausam. Schon beim Lesen bekommt man Gänsehaut. Doch was ist nun die Botschaft der Geschichte bzw. des Autors? Wie lautet die Business-Message? Achtung, festhalten: „Als Führungskraft sollte man nicht zu viele Erfolge auf einmal anstreben, sondern lieber Maß halten.

Klasse Geschichte! Das ist was zum Weitererzählen, spätestens Montag im Zoom-Meeting. Das Problem ist nur, diese kleine Horrorgeschichte ist Bullshit. Der vermeintlich naturwissenschaftliche Sachverhalt, auf dem die Führungskräfte-Botschaft aufbaut, ist falsch. Piranhas beißen anderen Fischen nicht die Flossen ab, um sie später zu verzehren. Zunächst einmal ließe sich ein möglicher Beutefisch dadurch gar nicht dauerhaft immobilisieren. Nach dem Verlust von ein oder sogar zwei Flossen kann er immer noch weiterschwimmen.

Piranhas bestimmter Regionen zielen aus einem ganz anderen Grund bevorzugt auf die Flossen ihrer Beute: Flossen sind Körperanhänge, die sich vergleichsweise leicht erbeuten lassen. Zudem sind sie eine nachwachsende Ressource, wie der australische Meeresbiologe David Bellwood von der James Cook University in Townsville bestätigt: „Flossen können nachwachsen. Damit sind sie eine „praktische, erneuerbare Nahrungsquelle“ für die Piranhas“. Das hätte der Autor des Buches leicht recherchieren können. Er aber pfeift auf die wissenschaftliche Genauigkeit (bzw. die notwendige Recherche), denn dann wäre ja die tolle Geschichte weg. Doch damit betrügt er seine Leser*innen.

Von der Natur lernen

Eines möchte ich an dieser Stelle klarstellen: Es gibt vieles, was wir von der Natur lernen können. Ganze Fachdisziplinen beschäftigen sich damit – z. B. die Bionik, die die Biologie mit der Technik verknüpft. Bioniker*innen untersuchen natürliche Materialien, Strukturen, Bauweisen und Funktionsmechanismen darauf, ob sie sich von uns Menschen nutzen lassen. Was die Natur im Laufe von Jahrmillionen erfunden hat, müssen wir ja nicht noch ein zweites Mal erfinden. So haben wir uns von Tieren und Pflanzen sehr praktische Konstruktionen abgeschaut wie den Klettverschluss oder Oberflächenstrukturen, auf denen kein Dreck mehr haftet.

Doch kehren wir zurück zu den Coachings und Seminaren. Die meisten Naturvergleiche, die darin bemüht werden, stammen aus den Bereichen „tierisches Verhalten“ und „pflanzliche Lebensgemeinschaften“. Auch hier gibt es Prinzipien, die sich auf bestimmte Aspekte des menschlichen Lebens übertragen lassen. So können wir z. B. von der arbeitsteiligen Organisation in Ameisenstaaten lernen. Das Ökosystem Wald lehrt uns etwas über Steuerungs- und Kommunikationsnetzwerke in komplexen Systemen. Und bestimmte Aspekte aus dem Sozialverhalten von Tieren lassen sich durchaus mit dem menschlichen Sozialverhalten vergleichen. Das aber funktioniert nur, wenn wir dafür auch Tierarten nehmen, die zumindest sozial leben und sozial organisiert sind. Und nein, Einzeller gehören nicht dazu.

Prinzipien aus der Natur auf den Menschen zu übertragen, ist eine faszinierende Sache. Das sollten aber nur die tun, die sich entweder in der Natur auskennen oder wenigstens sauber recherchieren. Wenn ein Diplomkaufmann in einem Buch fantastische Geschichten darüber erzählt, wo die Evolution überall Blaupausen für unser tägliches Leben bereithält, seien Sie kritisch. Wenn ein gefeierter Business-Coach Ihnen „Geht nicht, gibt`s nicht“ als Tschakka-Motivationsspruch präsentiert und erklärt, draußen in der Natur könnten selbst Schuppenkriechtiere wie der Gecko jede Wand hochklettern (also könnten auch Sie jede Herausforderung bewältigen), dann zweifeln Sie nicht an sich, sondern an der Kompetenz des Coachs. Den Gecko treibt es nämlich die Wand nicht dank seiner Willenskraft hoch, sondern dank eines speziellen biologischen Konstruktionsprinzips seiner Füße.

Fakten, statt Fiktion
Schlimm genug, dass man ausgerechnet im professionellen Coaching- und Ratgeberbereich immer wieder auf unwissenschaftliche oder fiktive Geschichten stößt, nur weil sie der Botschaft dienen. Storytelling ist schön, sollte aber faktenbasiert sein. Schlimmer sind hier nur noch die Sozialen Medien. Auf Facebook, Twitter & Co. gibt es für pseudowissenschaftlichen Unsinn keine Grenzen. Dort verbreiteten Geschichten wird nicht nur leicht geglaubt, sie werden auch schnell und unreflektiert geteilt. So wie die Geschichte vom Wolfsrudel mit systemischer Familien-, äh … Rudelaufstellung.

Grundlage dieser sozialromantischen Interpretation einer tierischen Momentaufnahme ist ein mehrere Jahre altes Foto. Sein Ursprung lässt sich nicht mehr genau ermitteln. Zu oft wurde das Foto schon geteilt. Es zeigt ein Wolfsrudel auf dem Weg durch eine verschneite Landschaft.

Foto: Quelle Twitter, Ursprung unbekannt.

Eines schönen Tages muss sich irgendein Mensch hingesetzt und den Verhaltensbiologen in sich entdeckt haben. Auf jeden Fall versah er das Bild mit folgendem Text:

„Eine Gruppe von Wölfen: Die drei vorne sind alt und krank. Sie laufen vor, um das Tempo der Gruppe zu setzen, damit sie nicht zurückgelassen werden.

Die nächsten fünf sind die stärksten. Sie sind beauftragt, die Vorderseite zu schützen, wenn es einen Angriff gibt.

Das Rudel in der Mitte ist immer vor Angriffen geschützt.

Die fünf hinter ihnen gehören ebenfalls zu den Stärksten. Sie sind beauftragt, die Rückseite zu schützen, wenn es einen Angriff gibt.

Der allerletzte im Bild ist der Anführer. Er sorgt dafür, dass niemand zurückgelassen wird. Et hält das Rudel vereint und auf dem gleichen Weg. Er ist immer bereit, in jede Richtung zu laufen, um zu schützen und dient als „Bodyguard“ der gesamten Gruppe.

Nur für den Fall, dass jemand wissen wollte, was es wirklich bedeutet, ein Anführer zu sein. Es geht nicht darum, an vorderster Front zu sein. Es bedeutet, sich um die Familie und das Team zu kümmern.“

Eine rührende Geschichte. Wenn einem da nicht das Herz aufgeht. Lasst uns allesamt wie dieses Wolfsrudel werden. Nur dass nicht eine einzige Aussage, die hier getroffen wurde, stimmt. Nicht eine! Und trotzdem wurde das Bild mit diesem Text allein auf Twitter zehntausendfach geteilt, geliked und wohlwollend kommentiert. Zigtausende Menschen glauben jetzt, über das Sozialverhalten der Wölfe Bescheid zu wissen. Und sicherlich gibt es mehr als einen selbsternannten Coach, der diese Geschichte bereits auf PowerPoint gebannt hat, um sie im nächsten Führungskräfte-Seminar zu präsentieren.

Wenn eine Geschichte zu schön ist, um wahr zu sein, dann ist sie zumeist auch nicht wahr. Also seien Sie kritisch. Niemand muss Biologie oder sonstiges studiert haben, um solche Geschichten zu hinterfragen. Oft reicht es schon, ein wenig zu googeln. Und wem das zu mühsam ist, der sollte solche Geschichten zumindest nicht ungeprüft teilen. Ein wesentlicher Kern von Scientific Literacy – also der naturwissenschaftlichen Grundbildung – ist kritisches Denken. Das funktioniert auch prima ohne Fachstudium.

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